Praxisbericht einer systemischen Beraterin

„So, wie wir als Kinder behandelt werden, behandeln wir uns während unseres ganzen restlichen Lebens." Dieser Satz von Alice Miller hat viele meiner Klienten dazu bewogen, den Weg zu mir zu finden. Der Grund hierfür ist, dass er auf eindrückliche und anschauliche Weise eine einfache Wahrheit ausspricht. Wie wir Beziehungen leben und gestalten, wie wir mit uns selbst umgehen – all das lernen wir in unserer „Ursprungsfamilie", der Familie in der wir aufgewachsen sind. Erst wenn wir uns aus den Beziehungsmustern unserer Kindheit, möglicherweise über Generationen hinweg bestehenden Familienstrukturen oder eventuell mitgegebenen „Aufträgen" gelöst haben, sind wir wirklich frei, das zu leben, was unserer eigenen Persönlichkeit entspricht.

Doch ist es wirklich möglich, sich aus all dem Vergangenen zu lösen? Und wie kann man das erreichen? Ja, man kann und wie so etwas geht, das möchte ich anhand des systemischen Praxisalltags erläutern. So können Sie sich ein Bild davon machen, wie die Arbeit einer systemischen Beraterin aussieht. Ich sage bewußt „einer systemischen Beraterin", denn der systemische Ansatz beinhaltet so viele unterschiedliche Richtungen und Arbeitsweisen, dass dieser Praxisbericht immer nur ein Abbild meiner individuellen Ausrichtung sein kann. Doch sicherlich fragen Sie sich bereits: Was heißt überhaupt „systemisch"?

„Systemisch zu arbeiten" heißt einfach gesagt : man betrachtet immer das ganze System, sei es die Familie, der Freundeskreis, eine Organisation oder ein Arbeitsteam. Wird z.B. in einer Familienberatung das berühmte „schwarze Schaf" präsentiert, wird man sich die ganze Familie anschauen, um herauszufinden, was dort los ist, dass sich ein Systemmitglied z.B. ein Kind oder ein Elternteil so "ver-rückt" verhält (möglicherweise von seinem Platz ver-rückt?).

Darüber hinaus heißt „systemisch zu arbeiten", Vertrauen in das innewohnende Potential von Klienten zu haben, auf die Fähigkeiten und Stärken der Klienten zu schauen (ressourcenorientiert) und auf konkrete Lösungen im aktuellen Leben zu fokussieren (lösungsorientiert). Die Klienten werden dabei unterstützt, Ihre ganz persönliche für sie passende Lösung zu finden.

Für mich persönlich heißt „systemisch zu arbeiten", sehr methodenorientiert vorzugehen (u.a. Phantasiereisen, Stuhlaufstellungen der Familie, „inneres Kind"). Im Gegensatz zum Gespräch (darüber reden) steht dabei das eigene Erleben und Fühlen (direkt erspüren) im Vordergrund. Dies entspricht meiner langjährigen Erfahrung, dass man vieles erspüren muss, um es zu „be-greifen" – erst dann ist Veränderung möglich.

Das „Setting" der Beratung, also mit wem gearbeitet wird, kann sehr unterschiedlich aussehen. Mit einer ganzen Familie, einem Paar, einem Arbeitsteam oder auch einzelnen Personen. Viele kennen systemische Beratung als Familienberatung oder -therapie. Doch gerade im systemischen Ansatz bietet die Arbeit mit Einzelpersonen spezielle Möglichkeiten. Familienmitglieder können dann über verschiedene Methoden wie das Familienbrett, Genogramm, oder die Skulptur bzw. Stuhlaufstellung (d.h. wichtige Personen im System z.B. Eltern, Geschwister können auf einem Brett, als Familienstammbaum oder stellvertretend über Stühle aufgestellt und betrachtet werden) in die Beratung geholt werden, ohne persönlich anwesend zu sein. Dies ist in vielen Fällen ein großer Vorteil – vielleicht möchte der Klient seine Eltern, Geschwister etc. gar nicht mit in der Beratung haben oder es ist auf Grund von räumlicher Distanz gar nicht möglich mit der ganzen Familie zu arbeiten. Vielleicht sind die Kinder noch zu klein oder die Eltern möchten anstehende Themen klären, ohne die Kinder mit in die Beratung zu bringen. Vielleicht gibt es einen Konflikt zu klären, in einem Arbeitsteam oder mit einer/m Vorgesetzte/n, ohne dass man diese Personen „live" vor Ort dabei haben möchte.

Fällt das Wort Stuhlaufstellungen, dann fragen viele sofort: „Arbeiten Sie nach Hellinger?" Tatsächlich sind die Arbeitsweisen verwandt, jedoch gibt es einige interessante Unterschiede. Im Gegensatz zu den Aufstellungen nach „Hellinger", die meist einmalig, an einem Tag oder Wochenende, innerhalb einer größeren Gruppe stattfinden, arbeitet man in einer systemischen Beratung/Therapie kontinuierlich, über einen längeren Zeitraum und im Einzel- bzw. Paar- oder Familiensetting. Manche ziehen diese konzentrierte Einzelarbeit bzw. Familienarbeit der Arbeit in einer größeren Gruppe vor.

Nun wissen Sie einiges über die Rahmenbedingungen und Arbeitsweise einer systemischen Beratung. Wie kann so eine Beratung aber ganz konkret helfen? Das möchte ich an ein paar Beispielen aus der Praxis zeigen: Eine Klientin, die z.B. in der Kindheit sehr viel Verantwortung für ihre Geschwister oder auch für ihre Mutter tragen mußte, kann diese Verantwortung in einer Stuhlauf-stellung an ihre Mutter zurückgeben. So kann sie sich von dem aus ihrer Herkunftsfamilie stammenden Muster lösen, sich immer wieder für alle anderen verantwortlich zu fühlen, dabei aber selbst zu kurz zu kommen.

Eine anderer Klient mit einer schweren Krankheit wie z.B. Krebs kann über eine Phantasie-reise mit seinem „inneren Heiler" in Kontakt treten und so wichtige Botschaften erhalten, die ihn in seinem Heilungsprozeß unterstützen. Manchmal mag die Botschaft an sich nichts Neues sein, wie z.B. der Satz „Nimm Dir mehr Zeit für dich selbst". Die Erfahrung zeigt jedoch, dass eine in inneren Bildern erlebte Botschaft eine ganz andere Wirkung hat als ein möglicherweise von Ärzten, Freunden oder Familienmitgliedern gehörter Ratschlag.

Steht eine Klientin z.B. vor einer wichtigen beruflichen Entscheidung, so hat sie die Möglichkeit, mit Seilen die verschiedenen Alternativen als begehbaren Weg auszulegen. Anschließend kann sie die verschiedenen Wege „ausprobieren" und so erspüren, welcher Weg sich für sie persönlich am ehesten eignet. Die dabei angeregten intuitiven Impulse, geben sehr oft aufschlußreiche Hinweise für persönlich stimmige Entscheidungen.

In all diesen Fällen und vielen weiteren bietet der systemische Ansatz mit seiner Methodenvielfalt eine wunderbare Möglichkeit zur ganz persönlichen Klärung und Hilfestellung beim Entdecken des eigenen Potentials. Denn letztlich gilt: „Wir sind frei, wenn unsere Handlungen aus unserer ganzen Persönlichkeit hervorgehen."(Henri Bergson)